Hirnforschung: Wo sitzt die Moral? – DW – 20.09.2023
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Hirnforschung: Wo sitzt die Moral?

20. September 2023

Moral haben wir in den Genen und sie ist sogar im Gehirn messbar. Bestimmte Hirnareale sind weniger aktiv. So wurden Verbrechern mit abweichender Hirnaktivität bereits mildernde Umstände gewährt.

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Aus dem Film Schweigen der Lämmer:  ANTHONY HOPKINS als Dr. Hannibal Lecter
Bei Psychopathen und Intensivstraftätern sind bestimmte Hirnareale weniger aktivBild: Ronald Grant/Mary Evans/IMAGO

Unabhängig von Alter, Herkunft, Religionen und Bildung wissen wir Menschen grundsätzlich, was gut und böse ist. Wir haben moralische Bedenken, andere Menschen zu töten, zu bestehlen oder zu belügen.

Vieles deutet darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht nur Erziehungssache ist. Zwar beruhen moralische Normen auf Tradition, Kultur und Religion. Aber die Grundlagen der Moral stecken bereits in den Genen, sie bestimmen unsere Intuition, unsere archaischen Gefühle.

Damit Menschen friedvoll zusammenleben können, geben sich Gemeinschaften Regeln, an die sich alle halten müssen. Wer gegen diese Regeln verstößt, stellt sich gegen die moralischen Normen der Gemeinschaft. Unsoziales Verhalten kann zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen.

Nicht nur Erziehung prägt die Moral

Zahlreiche Evolutionsbiologen glauben, dass die Moral unmittelbar mit der Evolution entstanden ist. Bereits als die Menschen vor etwa 400.000 Jahren begannen, gemeinsam zu jagen und Nahrung zu sammeln, gaben sich die frühsten Gemeinschaften vermutlich moralische Normen.

"Die Menschen haben immer sozial gelebt, und soziales Leben bedeutet Leben nach Regeln", so Evolutionsbiologe Jürgen Bereiter-Hahn von der Universität Frankfurt. "Darin sehe ich den Ursprung der Moral - sie kann unmittelbar einen Evolutionsvorteil schaffen." Das Leben in der Gemeinschaft erleichtert das Überleben. 

Wissenschaftliche Kartierung der Moral

Mit der Frage nach dem Ursprung der Moral beschäftigt sich auch die Hirnforschung. Die Probanden liegen dazu in einem Magnetresonanztomografen (MRT) und müssen verschiedene moralische Probleme lösen, während die Neurowissenschaftler messen, welche Hirnareale dabei aktiv sind. 

Eine Forschungsgruppe um Frederic Hopp von der University of California in Santa Barbara zeichnete für eine neue Studie die Hirnaktivitäten von 64 Probanden auf, während sich diese mit 120 verschiedenen Situationen von moralischem oder sozialem Fehlverhalten auseinandersetzen mussten. Etwa ob es moralisch verwerflich ist, bei einem Test zu schummeln oder eher banal. Oder ob es sozial angebracht ist, Kaffee mit einem Löffel zu trinken. 

Das Ergebnis der neuen Studie ist eindeutig: Es gibt keinen zentralen Ort im Gehirn, wo die Moral sitzt. Vielmehr ist ein breites Hirnnetzwerk in verschiedenen Gehirnregionen aktiv, was angesichts der komplexen Fragestellungen auch nicht wirklich verwundert. 

Eine männliche Hand mit einem 3D-gerenderten menschlichen Gehirn
Die Hirnforschung greift immer intensiver in unsere Vorstellungen von Moral und Schuld ein. Bild: ingimage/IMAGO

Verminderte Schuldfähigkeit?

Wenn Moralvorstellungen bereits in unseren Genen stecken oder von unseren Gehirnaktivitäten abhängen – was bedeutet das für die Praxis? Wie beurteilen wir dann Menschen, die besonders auffällig und bewusst gegen moralische Normen verstoßen? 

Diese Fragen beschäftigen auch die Rechtsprechung. Bei Intensivstraftätern, bei besonders aggressiven Personen und bei Psychopathen zeigen sich oftmals auffällige Abweichungen – bestimmte Hirnareale sind weniger aktiv. Psychopathen sind "gefühlskalt", sie sind berechnend und kennen weder Furcht noch Mitleid

Aber was bedeutet abweichende Hirnaktivitätsmuster für die Bewertung von Schuld? Können Verbrecher aufgrund ihrer spezifischen Hirnaktivitäten mildernde Umstände geltend machen? Klingt bizarr, aber einige Präzedenzfälle hat es bereits gegeben.

In Italien wurde 2009 einem Mörder, dessen psychiatrische Störung zuvor bereits als strafmindernder Umstand gewertet wurde, ein weiteres Jahr seiner Haftstrafe erlassen. Ein Hirnscan hatte gezeigt, dass der Mörder über einen Genotyp verfügte, welcher sich ungünstig auf seine Hirnphysiologie auswirke und ihn für aggressives Verhalten anfälliger machte.

2011 wurde wiederum in Italien eine geständige Mörderin zu 20 Jahren Haft verurteilt – nicht zu lebenslänglich, wie bei einem solchen Verbrechen eigentlich üblich. Das vergleichsweise milde Urteil verdankt sie ebenfalls einem Hirnscan, der ein geringeres Hirnvolumen belegte. Zudem verfügte die Mörderin über ein Risiko-​Gen, das mit einem Hang zu aggressivem Verhalten assoziiert wird. 

In den meisten Ländern gibt es dazu bislang noch keine eindeutige Rechtsgrundlage. Letztlich ist immer der Einzelfall entscheidend. Denn ein einheitliches Muster für Verbrechergehirne gibt es nicht, dazu sind Gehirne zu individuell und entsprechend schwer vergleichbar. 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund