Deutsches Kirchenasyl - 40 Jahre Tradition und Probleme – DW – 30.05.2024
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Deutsches Kirchenasyl - 40 Jahre Tradition und Probleme

30. Mai 2024

In Deutschland gibt es so viele Fälle von Kirchenasyl wie noch nie. Für viele ist es die letzte Rettung. Doch immer häufiger greifen Behörden ein. Das beschäftigt auch den Katholikentag in Erfurt.

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Die Zeitschrift "Kirchenasyl heißt Solidarität" in der Hand einer Person, im Hintergrund Stuhlreihen und Altar
Kirchenasyl ist in Deutschland nicht rechtlich verankert, wird aber in der Regel geduldetBild: Hans-Juergen Bauer/epd-bild/picture alliance

Das Bild wird Pastor Tobias Heyden nicht mehr vergessen. Polizeifahrzeuge blockierten am Abend des 12. Mai sein Pfarrhaus, rund zehn bewaffnete Polizisten umstellten das Gemeindehaus - in Bienenbüttel, einer beschaulichen 7000-Einwohner-Gemeinde in Niedersachsen.

 "Ich bin nach wie vor sehr schockiert über diese Sache", sagt Heyden der DW. Vor zwei Wochen endete einer von knapp 600 Fällen von Kirchenasyl, die es nach kirchlichen Angaben Ende März 2024 in Deutschland gab.

Die Polizei löste in Zusammenarbeit mit der für Asylfragen zuständigen Landesbehörde das Kirchenasyl in der St.-Michaelis-Gemeinde auf. Eine aus Russland stammende Familie, ein Elternpaar mit einem erwachsenen Sohn und einer 16-jährigen Tochter, wurde festgenommen und noch in der Nacht vom Flughafen Köln/Bonn nach Barcelona geflogen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten beendete damit das Land Niedersachsen ein Kirchenasyl durch den Einsatz der Polizei.

Mann mit runder Brille und rötlichem Bart schaut in die Kamera
"Der Zugriff an einem Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls per se erschüttert uns zutiefst" - Tobias HeydenBild: Tobias Heyden

"Wir haben über die Angehörigen nach wie vor Kontakt und wissen, dass es der Familie schlecht geht", erläutert Heyden. Die psychische Erkrankung der schwer traumatisierten Mutter, die in Deutschland in medizinischer Behandlung war, habe sich weiter verschärft.

Akzeptanz für Kirchenasyl schwindet

Der Staat, könnte man sagen, hat nichts falsch gemacht. Die aus Russland stammende Familie hatte ein spanisches Touristenvisum und war in Deutschland bei Verwandten, als daheim der Einberufungsbefehl für Vater und Sohn eintraf. Der Familie war klar, dass die beiden sich nicht an dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beteiligen wollten.

So beantragte sie Asyl in Deutschland. Das Kirchenasyl in Bienenbüttel sollte sie schützen. Aber nach europäischem Recht ist nicht Deutschland, sondern wegen des Visums Spanien für die Familie zuständig. Also folgte die Abschiebung.

Deutschland: Letzte Chance Kirche

Seit gut 40 Jahren versuchen Kirchengemeinden oder Ordenshäuser in Deutschland, Schutz zu gewähren, wenn Geflüchteten die Abschiebung in eine Gefahrensituation droht. Dieses Engagement ist nirgendwo rechtlich verankert. Jedoch wird es in der Regel von den Behörden geduldet, was das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Vertreter der großen Kirchen in einer Vereinbarung von 2015 festhielten.

Zahlen für Kirchenasyl so hoch wie nie

Für 2023 verzeichneten die Experten die bislang höchsten Zahlen in den gut 40 Jahren, in denen in Deutschland Kirchenasyl praktiziert wird. Das BAMF meldete insgesamt 1514 Fälle, und die ersten Monate von 2024 zeigen bereits einen weiteren Anstieg gegenüber dem Vorjahr. 

"Selbst wenn wir hohe Zahlen haben: Die Anfragen, die uns erreichen, sind fünf oder sogar zehn Mal höher als die tatsächlichen Fallzahlen", sagt Dieter Müller der DW. "Es gibt viel mehr Anfragen, als es letztlich Plätze gibt", so der Jesuit, der sich seit Jahrzehnten in der Flüchtlingsarbeit engagiert.

Geflüchtete haben Gewalt und Rechtlosigkeit erlebt

Seit zwei Jahren leben auch immer wieder Geflüchtete in Müllers Ordensgemeinschaft in Nürnberg, derzeit ist es eine irakische Familie. Sie hätten, erläutert Müller, zuvor als Flüchtlinge europarechtswidrig ein Jahr in Litauen im Gefängnis gesessen.

Mann mit Brille und Stoppelbart schaut in die Kamera
Der Jesuit Dieter Müller, stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche"Bild: Martina C. Schneider

Die Familie, gerade die Kinder, seien "definitiv traumatisiert", sagt der Pater. Deutschland dürfe sie einfach nicht ins Baltikum zurückschicken. Deshalb, so Müller, blieben sie nun in kirchlicher Obhut, bis sie Anspruch auf ein faires Asylverfahren in Deutschland hätten.

Ob Litauen oder Griechenland, Rumänien, Ungarn oder Kroatien - Müller kann viele Fälle von Gewalt, Rechtlosigkeit und einem menschenunwürdigen Umgang nennen.

Dublin-Fälle: wo das europäische Asylrecht versagt

So ist die Häufung der Kirchenasyl-Fälle auch eine Folge des Versagens des europäischen Asylrechts. In den meisten Fällen sind die von Abschiebung bedrohten Menschen sogenannte Dublin-Fälle.

Nach EU-Recht müssen sie im Land ihrer ersten Registrierung in Europa Asyl beantragen. Deshalb kann Deutschland sie abschieben - auch in Länder wie Litauen oder Griechenland, Bulgarien oder Kroatien.

Befinden sich die Geflüchteten jedoch sechs Monate in Deutschland, müssen sie nicht mehr in das Land ihrer ersten Registrierung abgeschoben werden. So sichern die Kirchengemeinden durch zeitlich befristetes Kirchenasyl Geflüchteten den Aufenthalt in vertrauter und sicherer Umgebung.

"Deshalb fühlen wir uns weiterhin berechtigt, zumindest einen kleinen Teil von Geflüchteten, die in einem EU-Staat schon Schlimmes erlebt haben, ins Kirchenasyl aufzunehmen", sagt Müller.

Der Jesuit wird in dieser Woche beim Katholikentag in Erfurt über die Kirchenasyl-Bewegung in Deutschland informieren. Das viertägige Laientreffen der Katholiken läuft noch bis zum 2. Juni. 

Kirchturm mit Uhr, davor Laubbäume
Schutz im Schatten der Kirche? Die evangelische St. Michaeliskirche in BienenbüttelBild: Ulrich Niehoff

Zurück nach Bienenbüttel. Würde Tobias Heyden erneut Kirchenasyl gewähren? Der Pastor sagt, er habe in der gesamten Gemeinde niemanden getroffen, der das Engagement für die russische Familie im Nachhinein kritisiert hätte. "Es bleibt das Erschrecken." Quer durch die politischen Lager im Ort habe er die Überzeugung gehört, dass die Räumung ein "Tabubruch" gewesen sei.