Der "verrückte Hund" ist rehabilitiert – DW – 28.04.2004
  1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der "verrückte Hund" ist rehabilitiert

Bernd Riegert28. April 2004

Mit allen Ehren wurde der libysche Staatschef in Brüssel empfangen. Doch die vielen Lobesworte konnten nicht darüber hinwegtäuschen: Gaddafi bleibt ein Diktator mit sehr eigenen Ansichten. Bernd Riegert berichtet.

https://p.dw.com/p/4xxl
Gaddafi und EU-Präsident Romano ProdiBild: AP

Als der brüderliche Führer und Revolutionslenker - so Gaddafis offizieller Titel - vor der EU-Kommission im schneeweißen 600er Mercedes vorfuhr, feierten ihn seine Anhänger mit nordafrikanischer Musik und schwenkten grüne Fähnchen. Muammar el Gaddafi, angetan mit braunem Wollgewand, bedankte sich mit einer geballten linken Faust. Im Kommissiongebäude geriet die weibliche Leibgarde in blauen Tarnanzügen ins Schwitzen, als ein allzu enthusiatischer Gaddafi-Fan versuchte, dem libyischen Staatschef eine Solidariätsadresse zu überreichen.

Gaddafi und EU-Kommissionspräsident Romano Prodi übergingen den Zwischenfall, indem sie ungerührt in die zahlreichen Fernsehkameras lächelten. Etwas abseits vom Kommissionsgebäude demonstrierten wenige Exil-Libyer gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, die auch Amnesty International kurz vor dem Besuch in Brüssel noch einmal verurteilt hatte. Sie skandierten "Gaddafi ist ein Diktator und Krimineller!".

Der Terrorist von gestern

Alltag in Libyen Muammar el Gaddafi
Bild: AP

In der Tat galt der exentrische Oberst Gaddafi, der 1969 im Alter von 27 Jahren per sozialistischem Staatsstreich die Macht übernahm, in Europa und den USA lange als geradezu aussätzig. Der Militärherrscher unterstützte Terroristen - die er jetzt bei seinem Besuch in Brüssel allerdings als Freiheitskämpfer bezeichnete. Mit Terror habe er nichts zu tun: "Wir taten unsere Pflicht. Wir trainierten die Freiheitskämpfer, damit sie ihre Freiheit erreichen konnten. Wir glaubten, das war unsere historische Pflicht."

Für die Attentate auf amerikanische und französische Flugzeuge in den 1980er-Jahren mit Hunderten von Toten kaufte sich Gaddafi mit einer Rekordentschädigungssumme von fast 2,8 Milliarden US-Dollar frei. 1986 sprengten libysche Terroristen die Berliner Diskothek LaBelle. Die Kompensationsverhandlungen laufen noch.

Bundesaußenminister Joschka Fischer will Gaddafi im Rahmen der EU erst politisch entgegen kommen, wenn darüber eine Einigung erzielt ist. Er ist zuversichtlich, dass die Verhandlungen bald abgeschlossen werden können. "Wir hoffen, dass sie zügig und im Einvernehmen aller Beteiligten abgeschlossen werden können, im Interesse der Überlebenden, im Interesse der Hinterbliebenen und auch im Interesse eines Voranschreitens der Reintegration Libyens in die Staatengemeinschaft."

Nachdem die USA sämtliche Handelssanktionen gegen Libyen aufgehoben haben, sollte die Europäische Union das gleiche für High-Tech-Produkte tun, empfahl der libyische Handelsminister Abdelkader Omar Blikhair. Die USA wollen Libyen von ihrer offiziellen Liste der Länder streichen, die Terrorismus fördern.

Politische Geschäfte

Gaddafi hatte im Dezember 2003 dem Versuch abgeschworen, sich Atomwaffen via Pakistan anzueignen. Bereits vorhandene Anlagen übergab er an die USA. Auch Chemiewaffen, die er in den 1980er-Jahren in Rabta bauen ließ, soll Libyen nicht mehr besitzen. In einem 40-minütigen Monolog vor Journalisten erklärte Gaddafi unter anderem: "Deshalb hat Libyen, das die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Afrika anführte, entschieden, jetzt die Friedensbewegung in der ganzen Welt zu führen."

Als Gegenleistung erwartet Gaddafi, der sich im Park des belgischen Staatsgästehauses ein Gebets- und Wohnzelt aus seiner Wüstenheimat aufstellen ließ, die Aufnahme seiner Sozialistischen Volksrepublik in den Mittelmeer-Dialog der Europäischen Union, eine besondere Partnerschaft, die Mittelmeeranrainer in Barcelona beschlossen hatten.

Mit leicht drohendem Unterton sagte Gaddafi, sollte das nicht gelingen, könne man gezwungen sein, sich Sprengstoffgürtel umzubinden, wie Palästinenser und Iraker das zur Zeit tun müssten: "Wir wollen nicht gezwungen sein, dies zu tun. Dies ist eine historische Chance für Frieden. Wir sagen dies zu Amerika und Europa. Wir sagen es zuversichtlich und laut: Wir sollten diese Chance nicht verspielen."

Das Primat der Ökonomie

Alltag in Libyen Ölindustrie
Bild: AP

Die Europäer sind an einer Öffnung Libyens und seiner Märkte stark interessiert. Libyen sitzt auf Ölvorkommen von mindestens 36 Milliarden Fass, die vier amerikanische Firmen und die britisch-niederländische Shell AG ausbeuten wollen. Mit seinem ersten Europabesuch seit 15 Jahren ist der libysche Außenseiter von einst, den der amerikanische Präsident Ronald Reagan in einer Fernsehansprache einen "verrückten Hund" nannte, auf der Weltbühne rehabilitiert.

EU-Kommissionpräsident Romani Prodi war voll des Lobes und empfiehlt dringend die Aufnahme Libyens in den Mittelmeer-Club: "Zu diesem Zweck ist Barcelona der beste Rahmen für Dialog und Zusammenarbeit. Wir sind entschlossen, Libyen als volles Mitglied in den Barcelona-Prozess aufzunehmen, so schnell wie möglich."

Italien, Prodis Heimatland und ehemalige Kolonialmacht in
Nordafrika, möchte Libyen dazu bewegen, stärker gegen afrikanische Boat-people vorzugehen, die von der Küste Libyens ihre lebensgefährliche Flucht beginnen.