Daniel Barenboim: „Die israelische Politik ist total falsch“ – DW – 30.09.2004
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Daniel Barenboim: „Die israelische Politik ist total falsch“

30. September 2004

Daniel Barenboim schafft es seit Jahrzehnten, als Pianist wie Dirigent gleichermaßen erfolgreich zu sein. Nun hat er den ersten Band von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ aufgenommen.

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Daniel Barenboim (AP Photo/Diether Endlicher)Bild: AP

Gregor Willmes

Herr Barenboim, Sie haben gerade den ersten Band von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" aufgenommen. Wie kommt es zu dieser Hinwendung zu Bach?

Daniel Barenboim

Ich bin mit Bach aufgewachsen. Mein Vater hat mich quasi damit erzogen. Damit meine ich, dass er all die Elemente, Ausdrucksmittel, die in der Musik wichtig sind, mir über Bach vermittelt hat: die Deutlichkeit, den Kontrapunkt, die Strenge, die man bei aller Freiheit haben muss, und die Freiheit, die bei aller Strenge nötig ist.

GW

Wie wichtig war ihm die Polyphonie?

DB

Sie war einer der Hauptgründe, warum er mich so insistierend auf Bach hingewiesen hat. Denn wenn man lernt, Bachs vier- oder fünfstimmige Fugen mit totaler Durchsichtigkeit zu spielen, kommt man weg von dieser total unmusikalischen, aber physischen Tatsache, dass der Mensch zwei Hände hat. Man spielt entweder mit einer Einheit, die aus den zwei Händen entsteht, oder aber mit zehn Einheiten, sprich Fingern, aber nie mit zwei Einheiten. Mit zwölf bin ich dann zu Nadia Boulanger nach Paris gegangen und habe bei ihr Harmonielehre und Komposition studiert. Und jede Stunde fing mit einer Fuge aus dem "Wohltemperierten Klavier" an, die ich transponieren musste.

GW

Haben Sie seit Ihrer Kindheit durchgängig Bach gespielt?

DB

Mit 15 oder 16 immer weniger, bis ich quasi ganz aufgehört habe. Ich konnte lange keinen eingenen Weg finden. Auf der einen Seite wollte ich ungeheuer viel zum Ausdruck bringen, auf der anderen Seite wusste ich, dass man Bach so nicht spielen kann. Da klang Bach eher wie Brahms. Hinzu kam in den 1960er und ’70er Jahren die Instrumenten-Problematik, so dass selbst so ein großer Pianist wie Claudio Arrau mir sagte: "Ich glaube, Bach muss man auf dem Cembalo spielen. Das kann man nicht auf dem Klavier. Entweder man macht das Cembalo nach und denkt: Warum spiele ich nicht gleich auf dem Cembalo? Oder man macht es nicht nach, und der Flügel klingt so voll und schwer."

GW

Wie kam es dann 1989 zu Ihrer Aufnahme der "Goldberg-Variationen"?

DB

Die "Goldberg-Variationen" hatte ich nie als Kind gelernt. Aber ich hatte bei meinen Reisen die Noten immer dabei und immer wieder gespielt. Eines Tages, als ich bei einer Variation nicht durchkam, habe ich mir gesagt: "Alle andere Klaviermusik ,orchestrierst‘ du in deiner Vorstellung. Warum machst du das nicht auch mal bei Bach?" Daraufhin habe ich mir überlegt, welche Instrumente zu Bachs Zeiten von großer Wichtigkeit waren: Cembalo, Orgel, Oboen, Trompeten, Streicher – und natürlich der Chor. Und ich habe bei einigen Variationen versucht, mir vorzustellen: Diese Stimme übernimmt die Oboe, und in der Wiederholung ist es vielleicht die Trompete. So bin ich weitergekommen.

GW

Auf das "Wohltemperierte Klavier" übertragen würde ich sagen, hatten Sie oft ein Clavichord im Kopf.

DB

Auch.

GW

Weil Sie ganz oft sehr leise, fast schon intim spielen. Getragen von einem schönen Klang. Als Sie den Zyklus beim Klavier-Festival Ruhr gespielt haben, hatte ich zeitweise den Eindruck: Eigentlich spielt er mehr für sich selbst als fürs Publikum.

DB

Wissen Sie: Es gibt Stücke, die spielt man fürs Publikum von der Bühne aus; und es gibt andere Werke, da versucht man das Publikum auf die Bühne zu bringen. Das "Wohltemperierte Klavier" ist sicherlich der letzteren Kategorie zuzuordnen.

GW

Sie sind in Buenos Aires geboren, sind ab dem zehnten Lebensjahr in Israel aufgewachsen, haben zwischenzeitlich in Europa und zeitweise wohl auch in Amerika gelebt, als Sie in Chicago dirigiert haben. Wo ist Ihre Heimat?

DB

Darauf gibt es mehrere Antworten: Erst einmal die Klischee-Antwort, die, weil sie ein Klischee ist, nicht unbedingt falsch ist: Ich fühle mich dort zu Hause, wo ich musizieren kann. Aber eine Heimat als solche habe ich eigentlich nur eine: Das ist Jerusalem. Aber nicht im heutigen Zustand.

GW

Ihre Großmutter war Zionistin und träumte vom Staat Israel. 1952 sind Sie mit Ihrer Familie dorthin ausgewandert. Und Sie haben bereits Anfang der 1990er Jahre die Toleranz gegenüber den arabischen Nachbarn als wichtiges Kriterium für das Überleben des Staates Israel bezeichnet. Macht es Sie traurig oder eher wütend, wenn Sie die heutige Lage sehen?

DB

Beides. Ich bin traurig, weil ich die Zukunft Israels, wenn es so weitergeht, in keinem guten Licht sehe. Weil diese Toleranz, die getragen wird von Akzeptanz der Gleichheit der palästinensichen Bevölkerung, zu wenig verbreitet ist. Und ich bin wütend, wenn ich an unsere Geschichte, die Geschichte des jüdischen Volkes denke. Zwanzig Jahrhunderte waren wir immer eine Minderheit, manchmal sehr gut aufgehoben, manchmal schrecklich. Wir kennen die Grausamkeiten der Geschichte, sei es die spanische Inquisition oder sei es Hitler. Nun selbst eine andere Minderheit zu kontrollieren, wie es im Nahen Osten der Fall ist, das ist für mich als Jude ein unerträgliches Gefühl. Ich glaube, kein Volk hat das Recht, über ein anderes zu herrschen.

GW

Sie haben vor rund zehn Jahren formuliert: "Der nächste Schritt in der Geschichte der jüdischen Entwicklung, die Koexistenz mit den Arabern, wird – so hoffe ich – mit der nächsten Generation von Israelis vollzogen werden." Waren Sie zu optimistisch?

DB

In den letzten 15 Jahren hat sich die Lage sehr verschärft, sowohl in den Beziehungen zwischen Israel und Palästina als auch in Israel selbst. Dadurch, dass die Religiösen ein viel größeres Gewicht erhalten haben. Das Hauptproblem in Israel selbst ist die Beziehung zwischen religiösen und säkularen Juden. Und die Ambiguität: Ist Israel ein jüdisch-religiöser Staat oder sozusagen ein jüdisch-säkularer? Und was ist das dann? Ein religiöser Jude ist ja sehr leicht zu definieren. Das ist jemand, der regelmäßig in die Synagoge geht, bestimmte Dinge nicht isst ... Aber was ist ein säkularer Jude? Und inwiefern unterscheidet sich ein säkularer Jude von einem säkularen Nicht-Juden? Juden sind immer von außen definiert worden. Hitler hat gesagt: "Du bist Jude." Und dann war man in Auschwitz. Obwohl man selbst oder der eigene Vater vielleicht ein Held im Ersten Weltkrieg war und die eigene Familie schon seit sieben Generationen einen Assimilierungsprozess mitgemacht und vergessen hatte, dass sie etwas mit dem Judentum zu tun hatte. Mit dem Staat Israel kam nun erstmals die Möglichkeit und die Pflicht für die Juden, sich selbst zu definieren. Es interessiert mich also nicht so sehr, ob Sie mich als Juden sehen oder nicht. Sondern ich muss für mich wissen, ob ich es bin und was das bedeutet. Bis dieses Problem nicht gelöst ist, wird der Konflikt mit den Palästinensern nicht zu lösen sein.

GW

Ist das letztlich nicht die Frage, ob man sich als Israeli fühlt oder als Jude? Wenn man von den Juden spricht, meint man doch erst einmal Leute mit einer bestimmten religiösen Einstellung, die wie Christen oder Moslems einer bestimmten Religion angehören. Man spricht hingegen von den Deutschen, weil sie in Deutschland leben, oder von den Franzosen, weil sie in Frankreich leben. Man müsste dann folgerichtig auch von den Israelis sprechen, die in Israel leben.

DB

Das geht aber nicht so einfach, weil Israel als Staat gegründet worden ist, um Juden aus der ganzen Welt empfangen zu können. Und zu einer Lösung des Konflikts kann es nur kommen, wenn man wirklich wahrnimmt, dass das Schicksal des jüdischen Volkes – seitdem es zurückgekehrt ist – und das Schicksal des palästinensischen Volkes aneinander gebunden sind. Diese bewusste Bindung lässt sich aber nur erreichen, wenn zwei Dinge passieren: Erstens muss das innerisraelische Problem zwischen Religiösen und Säkularen gelöst werden. Und auf palästinensischer Seite kann es nur zu einer friedlichen Lösung kommen, wenn die Palästinenser es schaffen, einen ehrlichen demokratischen Staat zu errichten. Nur die Demokratie kann die Straße kontrollieren. In dem Moment, wo es eine Demokratie gibt, die von allen akzeptiert wird, kann es Gesetze geben, die regeln, was geht und was nicht. Libanon, Jordanien oder Syrien sind unabhängige Staaten. Und Israel kann jeden Krieg gegen ein arabisches Land gewinnen, vielleicht sogar gegen alle arabischen Staaten zusammen. Aber es kann nicht einen Krieg gegen das palästinensiche Volk gewinnen, weil es drinnen – im eigenen Land – ist. Das heißt: Es gibt diesen geographischen Teil, der unter den Briten Palästina hieß. Der geht vom Norden, vom Libanon und Syrien, bis zu Ägypten im Süden. Darin gibt es ungefähr fünf Millionen Juden und fünf Millionen Palästinenser.

GW

Wie will man dann zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommen?

DB

Naja, der Krebs sind diese Siedlungen. Gäbe es die jüdischen Siedlungen nicht, wäre es viel einfacher. Weil auch die Teilung der Bevölkerung relativ klar ist. Was Israel selbst betrifft, in den Grenzen von 1967, gibt es dort rund 20 Prozent Palästinenser in der Bevölkerung. Aber wenn man das Ganze nimmt, also Westbank und Gaza dazu, hat man schon jetzt 50 Prozent. Und die Demographie sieht so aus, dass jede arabische Familie vier oder fünf Kinder hat. Fast jede palästinensische Frau ist alle 18 Monate schwanger. Da muss man kein großer Mathematiker sein, um zu wissen: Israel kann so etwas nicht überleben. Deswegen ist die Politik von Israel so total falsch. Man muss sich entscheiden. Entweder man sagt: "Ich will das ganze Land." Dann muss man in Kauf nehmen, dass 50 Prozent der Bevölkerung Nicht-Juden sind, die auch ein Recht haben, dort zu leben. Oder man teilt das Land, und jeder Teil kann für sich leben – mit einer Minderheit von Palästinensern in Israel und vielleicht einer Minderheit von Juden im zukünftigen palästinensischen Staat. Aber nach so vielen Jahren von Hass und Krieg ist das so nicht mehr möglich. Das heißt: Einen palästinensischen Staat heute als Ziel zu haben, reicht nicht. Es muss ein palästinensischer Staat sein, dem auch bewusst ist, dass sein Schicksal in irgendeiner Weise mit dem von Israel verbunden ist. Und deswegen muss dieser Staat von Anfang an wie in einer Art Föderarion mit Israel verknüpft sein. Die beiden Staaten müssen zusammenarbeiten. Sonst ist es nicht zu schaffen.

GW

Es kann also nicht zwei Staaten geben, die sich sofort bekriegen, weil sie nun zwei Staaten sind.

DB

Ja. Deswegen ist diese Mauer – außer der Tatsache, dass so etwas moralisch nicht zu vertreten ist – sogar strategisch falsch für Israel. Sie ignoriert, dass die zwei Völker miteinander verbunden sind. Doch wenn sie aneinander gebunden sind, können sie nicht eine Mauer dazwischen bauen. Da müssen sie sich etwas anderes überlegen. Das macht mich so wütend: dass das jüdische Volk, das in der Geschichte immer als ein Volk mit viel Wissen und Intelligenz galt, sich reduziert auf ein normales tierisches Prinzip der Verteidigung durch eine Mauer.

GW

Sie selber haben versucht, diese Mauer zu überwinden: zuerst durch Ihr Projekt "West-östlicher Diwan". Jetzt haben Sie in Sevilla eine Stiftung gegründet, die junge Musiker aus Israel und aus arabischen Ländern fördern soll. Wie sieht das ganz konkret aus?

DB

Diese Stiftung habe ich gemeinsam mit Edward Said und der andalusischen Regierung gegründet. Und sie hat mehrer Ziele: Das erste ist die Fortführung des "West-östlichen Diwan". Das ist ein Orchester-Workshop, den es bereits seit sechs Jahren gibt und der mittlerweile in Andalusien veranstaltet wird. Man probt hier zwei, drei Wochen und gibt dann Konzerte. Seine volle Dimension kann das Projekt aber erst erreichen, wenn das Orchester in all den Ländern auftreten kann, die in ihm repräsentiert sind. Das heißt, das Orchester müsste in der Lage sein, im Libanon, in Syrien und Jordanien, Ägypten, Israel und Palästina zu spielen. Das ist jetzt nicht der Fall, aber ein Ziel.

GW

Welche Ziele gibt es noch?

DB

Der zweite Punkt betrifft die musikalische Erziehung. Wir bemühen uns, dass in den Schulen der Westbank Musik unterrichtet wird wie Literatur oder Geographie. Wir wollen Musik als normalen Teil der Bildung fördern. Außerdem wollen wir in Ramallah ein palästinensisches Jugendorchester gründen. Wir arbeiten dabei mit dem Edward-Said-Konservatorium zusammen. Außerdem rufen wir in Ramallah gerade einen musikalischen Kindergarten ins Leben. Das wird ein normaler Kindergarten sein, aber einer, wo als Hauptfach, wenn man so etwas überhaupt in Bezug auf einen Kindergarten sagen kann, Musik gelehrt wird. Die Kinder werden viel singen, Klavier spielen. Schließlich unterstützt die Stiftung noch eine Orchesterakademie in Andalusien, die im letzten Januar in Sevilla gegründet worden ist.

GW

Die ist dann aber für spanische Musiker?

DB

Ja, obwohl sie auch die Jugendlichen aus Palästina aufnehmen wird, wenn sie so weit sind.

GW

Sie arbeiten beim "West-östlichen Diwan" nun schon seit einigen Jahren mit Jugendlichen aus Israel und den arabischen Ländern. Kommen da ohnehin nur Leute hin, die geistig so rege sind, dass sie sagen: "Eigentlich kann es nur über Koexistenz zum Frieden kommen", oder gibt es dort wirklich Teilnehmer, bei denen man zuerst einmal real existierende Feindbilder abbauen muss?

DB

Wir haben alles, wie in einer Mikrogesellschaft. Es gibt junge Leute, die sind sehr neugierig auf die anderen. Ein Syrer etwa hat ja sein ganzes Leben nie einen Israeli gesehen. Jetzt ist er zum ersten Mal damit konfrontiert. Und er hat natürlich ein Feindbild. Und von Israel auf Syrien gibt es das Gleiche. Plötzlich sitzen sie im Orchester am selben Pult und müssen versuchen, den gleichen Ton zu spielen, in der gleichen Lautstärke, in der gleichen Farbe und Intensität. Das ist ein wahnsinnig starkes Mittel, um die beiden aufeinander zuzubewegen. Es gibt andere, die nur aus musikalischen Gründen kommen. Wir hatten in diesem Jahr sechs Musiker aus dem Sinfonieorchester von Damaskus. Ich bin sicher, dass es unter diesen sechs bestimmt zwei oder drei gab, die nur für die Musik gekommen sind. Sie wissen, dass dieses Orchester viel besser ist als ihr Sinfonieorchster. Sie wissen auch, dass sie bei uns mit den Stimmführern der Staatskapelle, der Berliner Philharmoniker und des Chicago Symphony Orchestra arbeiten und etwas lernen können, das sie in Damaskus nicht lernen können. Und sie wollen, wenn sie kommen, von der anderen Sache nichts wissen. Wenn sie eine Woche da sind, ändern einige ihre Meinung und sind auch neugierig. Andere bleiben stur und wollen nicht. Aber ich akzeptiere das. Für mich reicht nur ein Satz, den man nicht aussprechen muss, weil er schon inbegriffen ist, wenn man kommt. Der heißt: Wir glauben nicht an eine militärische Lösung. Wenn ich an eine militärische Lösung glauben würde, würde ich zu so einem Workshop nicht erscheinen.

GW

Welche Erfahrungen machen Sie in Ramallah?

DB

Ganz erstaunliche. Klassische Musik ist dort nicht Teil der Kultur. Trotzdem sind der Enthusiasmus und die Begabungen, die dort auftauchen, unglaublich. Und dort spielt die Musikerziehung eine viel wichtigere Rolle als woanders auf der Welt: weil jede Stunde, die ein 14- oder 15-Jähriger Geigenunterricht nimmt und übt, Stunden weniger sind, die er mit Gewalt und der Erziehung zu Gewalt und Selbstmord konfrontiert ist. Dort sieht man wirklich, was Musik für den Menschen bedeuten kann. Wir hatten in diesem Jahr in Sevilla ein 14-jähriges Mädchen aus Ramallah. Sie kam nur als Hospitantin. Das sind Kinder, die noch nicht auf dem Niveau der anderen spielen. Aber sie erhalten Unterricht und hören bei den Proben zu. Dieses eine Mädchen aber war wirklich begabt und mit riesigem Enthusiasmus und Stolz dabei. Und sie wollte unbedingt spielen. Die Geigenlehrerin hat mich dann gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn das Mädchen einen Satz der fünften Sinfonie von Tschaikowsky mitspielen dürfte. Ich sagte: "natürlich nicht." Und sie hat den ersten Satz gelernt und mitgespielt. Strahlend ging sie davon. Zwei Tage später – insgesamt haben wir 18 Proben gemacht – kam das Mädchen selbst auf mich zu und sagte: "Ich habe den zweiten Satz auch gelernt. Darf ich den mitspielen?" Um es kurz zu machen: Sie hat die ganze Sinfonie und die Zugaben gelernt, und wir haben sie mit auf Tournee genommen. Ein 14-jähriges Mädchen aus Ramallah, das in London, Genf und Barcelona gespielt hat. Am Ende hat sie mir gesagt: "Ich danke Ihnen, weil das der beste Weg ist, wie ich gegen die Demütigungen des alltäglichen Lebens kämpfen kann." Das heißt: Jedes Mal, wenn sie über den Checkpoint geht, fühlt sie sich gedemütigt von einem Soldaten, der sagt: "Das darfst du, das nicht." Sie ist Palästinenserin, hat aber im Orchester automatisch die gleiche Bedeutung gehabt wie die Israelis. Das ist eine Erfahrung, die sie sonst in Ramallah derzeit nicht machen kann.

CD-Tipps

Daniel Barenboim ist seit Jahrzehnten einer der aktivsten Künstler auf dem Plattenmarkt. So kann man derzeit mehr als 300 Produktionen mit ihm kaufen. Viele Aufnahmen dürften allerdings in unterschiedlicher Verpackung mehrmals erhältlich sein. Die meisten seiner frühen Einspielungen – u. a. mit Jacqueline du Pré – sind bei EMI, die neueren zumeist bei Teldec bzw. Warner erschienen – darunter viel Wagner. Darüber hinaus sind von verschiedenen Firmen mittlerweile auch einige DVD-Videos veröffentlicht worden. Da fast alle im FONO FORUM besprochen worden sind, listen wir hier nur einige in letzter Zeit neu erschienene bzw. wieder veröffentlichte Produktionen auf:

Mit Jacquelin du Pré

Brahms, Cello-Sonaten op. 38 und 99 (1968); EMI CD 7243 5 62741 2 9

Mit der Staatskapelle

Beethoven, Sinfonien Nr. 1-9 (1999); Warner 6 CD 3984-27838-2

Schumann, Sinfonien Nr. 1-4 (2003); Warner 2 CD 2564-61179-2

Am Klavier

Bach, Goldberg-Variationen; Beethoven, Diabelli-Variationen (1989, 2 CD 2564-60010-2); Warner CD 2564-60010-2

Ab dem 18. Oktober erhältlich:

Bach, Das Wohltemperierte Klavier Bd. I

Warner 2 CD 2564-61553-2

DVD-Tipp

Multiple Identities – Encounters with Daniel Barenboim; Euroarts/Naxos 2 DVD 2050429 (Die Produktion wird im November wieder veröffentlicht und enthält auf der ersten DVD eine Dokumentation über Daniel Barenboim vom Sommer 1999 bis Sommer 2000 und auf der zweiten Scheibe den Mitschnitt von Barenboims Solo-Recital in Buenos Aires von 2001 zum 50. Bühnenjubiläum.)

Literatur

Daniel Barenboim: Die Musik – mein Leben. List Taschenbuch, Berlin 2004 (neue Taschenbuchausgabe der 1992 erstmals und 2002 in leicht erweiterter Form erschienenen Biographie)

Daniel Barenboim und Edward W. Said: Parallelen und Paradoxien. Über Musik und Gesellschaft. Hrsg. Von Ara Guzelimian. Berlin Verlag, Berlin 2004 (der Musiker und der Geisteswissenschaftler im fruchtbaren Dialog über Gesellschaft, vor allem aber über Musik)

Konzert-Tipp

8.11. Berlin, Philharmonie: Bach, Das Wohltemperierte Klavier